Aus meiner Sicht gibt es heute zwei zentrale Herausforderungen in der Kaffeeindustrie: die ökologischen Auswirkungen des Anbaus und die sozialen Bedingungen in den Anbaugebieten. Letztere sind das Thema dieses Beitrags. Es geht dabei weniger um die schwierigen Bedingungen in Anbauländern wie beispielsweise Honduras, wo aufgrund der Migration kaum noch Personen zu finden sind, die sich dem Kaffeeanbau widmen können. Vielmehr erläutere ich kurz meine Gedanken zum Thema Kolonialismus und wie sich dieser auf die heutigen Bedingungen niederschlägt, respektive wie wir mit den durch den Kolonialismus entstandenen und geförderten Ungleichheiten umgehen. Die historische Dimension wurde dabei an anderer Stelle viel umfassender geschildert. Mir geht es hier um die Konsequenzen für unser alltägliches Handeln als Unternehmen, insbesondere im Einkauf von Kaffee.
Innerhalb dieses Themas sehe ich drei Aspekte, die wir beleuchten müssen:
- Verbreitung von Kaffee
- Verdrängung und historischer Anbau
- Auswirkungen heute
1. Verbreitung von Kaffee
Wir könnten die historische These aufstellen, dass es ohne den Globalisierungseffekt, den es durch den Kolonialismus gab, die Verbreitung von Kaffee sich auf das heutige Äthiopien/Jemen für Arabica und Uganda/DRC/Südsudan und Zentralafrikanische Republik für Robusta beschränken würde. Die heutige Verbreitung von Indonesien bis Kolumbien ist ein direkter Effekt dieser historischen Produktionsstandorte und Handelsrouten. Ausnahmen bleiben einige Exoten wie zum Beispiel China und Vietnam, wo Kaffee zu einem späteren Zeitpunkt und durch andere Akteure Verbreitung fand. Unser Kaffee-Portfolio bei ViCAFE ist diesbezüglich durchwegs repräsentativ: Von unseren aktuell 16 Kaffee-Partner*innen haben fünf einen offensichtlichen kolonialen Bezug. Ausserdem kamen 14 der 16 Partner*innen mit Kaffee in Berührung, nachdem dieser durch europäische Händler*innen in diese Länder gebracht wurden. Dies führt uns zum zweiten und heikleren Punkt.
2. Verdrängung und historischer Anbau
Ich möchte diesen Aspekt anhand von zwei Beispielen erläutern: Vor einigen Wochen haben wir Brasilien bereist, um unsere Wertschöpfungskette zu überprüfen und zu optimieren. Wir sprachen mit einigen Farmer*innen, welche bereits in der siebten oder achten Generation Kaffee anbauen. Dabei wollte ich besser verstehen, wer auf diesem Land gelebt hat, bevor Europäer*innen damit begonnen haben, grosse Landwirtschaftsbetriebe aufzubauen. Zu meiner Überraschung wusste kaum jemand etwas über dieses Thema zu berichten. Ich wurde auf ein Museum in der nächsten Stadt verwiesen. Dies zeigt klar, wie auch Kaffee Teil dieses Verdrängungsmechanismus war; Teil einer heroischen Frontier-Saga, welche die Menschen, die dieses Land für lange Zeit belebt haben, im besten Fall ignoriert oder sogar aktiv negiert wurden. Das zweite Beispiel stammt aus einem Gespräch mit einem Kaffeebauern. Wir unterhielten uns über die Produktionskosten und die ökonomischen Herausforderungen für eine moderne Kaffeefarm. Ganz beiläufig und völlig selbstverständlich sprach er plötzlich darüber, dass ein*e Sklave*in rund 12’000 Bäume bewirtschaften konnte und dass dies heute, trotz Technik, nicht mehr möglich sei. Ich denke, das ist ein frappierendes Beispiel, welches klar aufzeigt, dass diese koloniale, imperialistische Denkweise noch nicht vollständig überwunden werden konnte. Dies führt uns schliesslich in die Gegenwart.
3. Auswirkungen heute
Ich stelle fest, dass es im heutigen Produktions- und Handelssystem immer noch substanzielle Ungleichgewichte gibt. Obschon sich die Informationsasymmetrien dank neuer Technologien etwas ausgeglichen haben, kumulieren sich Geld und Macht oft entlang historischer Bruchlinien. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, die den Handelshäusern und Grosskonzernen bösen Willen oder sogar verbrecherische Absichten unterstellen, scheint mir das Problem vielmehr die weitverbreitete Ignoranz und der Unwille, die Kosten von Veränderung zu bezahlen. Dies betrifft sowohl Unternehmen wie auch Konsument*innen.
Ein nicht so offensichtliches Beispiel: Unternehmen, aber auch Regulatoren in „entwickelten“ Ländern tendieren dazu, immer striktere Anforderungen zu definieren. Der öffentliche Druck führt zu immer mehr und komplexeren Gesetzen, Checklisten und Audits. Dies verursacht enorme Anpassungskosten in den Anbauländern. Kleinere Farmen werden dadurch weiter marginalisiert, während grosse Farmen, ironischerweise oftmals mit kolonialer Geschichte, erneut im Vorteil sind.
Wie gehen wir mit diesen Herausforderungen um?
Unsere Sourcing Philosophie basiert auf Empathie, dem geschickten Einsatz von vorhandenen Ressourcen und schliesslich einer gnadenlosen Ehrlichkeit. Wir haben hierfür sieben Kriterien definiert, wobei drei in diesem Kontext besonders relevant sind und hier kurz erläutert werden.
- Win-Win-Win: Bei jedem Einkauf sollen alle Beteiligten von der Zusammenarbeit profitieren. Auf der Hand liegt dabei der finanzielle Aspekt. Bei Preisverhandlungen mit Bäuerinnen und Bauern laden wir diese dazu ein, uns einen Preis zu nennen, der alle operativen Kosten sowie Investitionskosten deckt und ausserdem einen Profit ermöglicht. Neben der finanziellen Dimension geht es auch darum, die Bäuerinnen und Bauern zu fragen, wie sie Kaffee anbauen wollen, sodass sie eines Tages ihre Farm voller Stolz der nächsten Generation übergeben können. Dieser gestalterische Spielraum scheint uns elementar, um einen “top-down” Prozess zu verhindern.
- Dies ist nur möglich mit persönlichen Beziehungen: Wenn immer möglich wollen wir unsere Partner*innen persönlich kennen und eine bedeutsame Beziehung aufbauen. Dies gilt ganz speziell für Partner*innen, die (historisch) marginalisiert werden. Nur wenn wir Personen kennen, können wir einen gemeinsamen Entwicklungsplan definieren und das nötige Vertrauen zur Umsetzung aufbauen. Immer gezielter suchen wir dabei auch “Kultur/Wissens-Übersetzer”, welche uns helfen, unser akademisches Nachhaltigkeitswissen verständlich zu machen und einen sinnvollen Dialog zu führen. Während dies in Ländern wie Äthiopien auf der Hand liegt, sind solche Personen auch in hochentwickelten Agrarstaaten wie Brasilien zwingend notwendig.
- Kontrollkriterium: Test Effizienz: Hier nutzen wir ein ökonomisches Modell. Wir wollen jegliche negativen Externalitäten verhindern (kein netting). Nur wenn alle Kosten unseres Handels eingepreist sind, können wir von einer effizienten Ressourcenallokation sprechen. Dabei sind die Effekte auf die Biodiversität ebenso wichtig wie das Wohlergehen von Menschen in dieser spezifischen Wertschöpfungskette. Bei diesem Punkt müssen wir unter anderem prüfen, wie hoch die Löhne von temporären Mitarbeiter*innen sind. Zudem unterstützen wir verschiedene Projekte mit der ViFOUNDATION, welche helfen sollen, den Wandel zu beschleunigen – denn Zeit bleibt uns kaum.
Pascal Herzog ist Mitglied der Geschäftsleitung von ViCAFE und unter anderem verantwortlich für Impact und Sustainability. Dieser Blogbeitrag entstand im Anschluss an eine Zusammenkunft des Zürcher Stadtrats und Mitgliedern der Stadtverwaltung. Wir hatten die Gelegenheit, ihnen unsere Sourcing Philosophie, insbesondere in Bezug auf den Kolonialismus, zu erläutern.